Das ist ein intensiver Prozess in einem Alter, in dem sich die jungen
Menschen ohnehin quasi noch einmal selber neu erfinden müssen. Neben
der normalen Ablösung von den Eltern übernehmen Jugendliche mit Diabetes
Typ 1 zudem stetig mehr Verantwortung für das Management ihres
Diabetes, sie lassen sich nicht mehr kontrollieren oder gar dreinreden
und besprechen sich in der regelmässigen Kontrolle meist selbständig mit
ihrem Diabetologen oder ihrer Diabetologin.
Jetzt sind sie mit der Frage konfrontiert, wann und wie sie bei der
Lehrstellensuche über ihre Krankheit informieren. Wobei “Krankheit”
vielleicht generell der falsche Ausdruck ist – sie sind ja gesund und
normal belastbar, brauchen aber in gewissen Momenten die Möglichkeit,
sich um einen zu tiefen oder zu hohen Blutzucker zu kümmern. Trotzdem
sollten sie ab einem gewissen Punkt im Bewerbungsprozedere den Diabetes
offenlegen. Leicht fällt das wohl keinem und keiner.
Wer will – gerade in diesem Alter – schon irgendwie anders sein,
auffallen? Wer befürchtet schon gerne, dass die Bewerbung gleich auf dem
“Aussortiert”-Stapel landet? Michael Kraft, Jugendberater des
Kaufmännischen Verbandes Schweiz, sagt dazu: “Ich würde mir überlegen,
ob man dieses Thema bereits im Bewerbungsverfahren ansprechen will. Denn
ein gewisses Risiko besteht natürlich, dass falsche Vorstellungen über
Diabetes die Lehrstellenvergabe beeinflussen”. Der Verband ist die
grösste Berufsorganisation der Schweiz und das “KV” – die kaufmännische
Grundbildung – die mit Abstand beliebteste Lehre.
Rechtlich gesehen, führt Michael Kraft aus, gibt es keinen Zwang, die Krankheit bereits bei der Bewerbung offen zu legen: “Da die Jugendlichen gleich leistungsfähig wie ihre gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen sind, müssen sie dies aus rechtlicher Sicht nicht tun. Die Krankheit beeinflusst, ausser vielleicht in einigen wenigen Berufen, die Situation bei der Arbeit nicht oder nur unwesentlich, womit es den Arbeitgeber grundsätzlich auch nichts angeht.”
Er empfiehlt, erst im persönlichen Bewerbungsgespräch auf den Diabetes einzugehen: “Es kann natürlich sein, dass der oder die Jugendliche das Thema von sich aus unbedingt ansprechen möchte, um die Frage gleich von Beginn “auf den Tisch” zu bringen. Das ist selbstverständlich möglich und hat im Rahmen des Bewerbungsgesprächs auch Platz. Entscheidet man sich dafür, dann würde ich die Krankheit erst gegen Ende des Gesprächs oder in einer allfälligen zweiten Runde ansprechen, wenn sich beide Seiten schon etwas besser kennengelernt haben. Wichtig scheint mir, mögliche Befürchtungen des Lehrbetriebs zu mindern und den Arbeitgeber über die Krankheit zu informieren. Mit einigen konkreten Beispielen, wie man mit Diabetes Typ 1 im Alltag umgeht, kann diffusen Vorstellungen entgegengewirkt werden.”
Es ist sicher zu empfehlen, diesen Teil des Gespräches vorher
einzuüben. Der Diabetologe oder die Diabetologin unterstützt die
Jugendlichen dabei sicher gerne. Auf alle Fälle ansprechen sollte man,
dass der Blutzucker zu tief sein kann, dass sich dieser Zustand aber mit
ein paar Traubenzuckern oder etwas Orangensaft schnell korrigieren
lässt. Es ist sinnvoll, sich bereits im Voraus eine Kurzfassung über
Diabetes Typ 1 zurechtzulegen. Die kann ungefähr so lauten: “Diabetes
Typ 1 ist eine Autoimmunkrankheit. Sie hat nichts mit dem viel weiter
verbreiteten Diabetes Typ 2 zu tun. Mein Körper kann kein Insulin mehr
produzieren. Insulin wird benötigt, um die Energie aus den
Kohlenhydraten – die Glukose – aus dem Blut in die Zellen zu
transportieren. Ich muss darum täglich meinen Blutzucker mehrmals
kontrollieren und Kohlenhydrate mit Insulin abdecken. Das mache ich ganz
diskret mit meiner Pumpe über die Fernbedienung / mit einem Pen. Mein
Blutzucker kann manchmal zu tief sein, dann esse oder trinke ich
schnellwirksame Kohlenhydrate. Wenn er zu hoch ist, korrigiere ich das
mit Insulin. Ich bin aber abgesehen davon gesund und ganz normal
leistungsfähig.”
Einzelheiten, etwa wo am Arbeitsplatz Ersatzmaterial aufbewahrt
werden kann, können nach einer Zusage besprochen werden – dann aber
unbedingt, damit der oder die Lernende möglichst unbelastet ins
Arbeitsverhältnis starten kann.
Und wie stellt sich das eigentlich aus der Sicht eines Lehrbetriebs
dar? Wie sollen Betriebe reagieren, wenn sie im Bewerbungsprozess von
der Krankheit erfahren? Michael Kraft rät: “Einerseits sollte sich der
Lehrbetrieb über Diabetes informieren und der Bewerberin oder dem
Bewerber ganz praktische Fragen stellen. Die Jugendlichen sind die
Experten für ihre Krankheit und können auf diese Weise viel klarstellen.
Andererseits appelliere ich auch an die Professionalität im
Auswahlprozess. Der Berufsbildner, die Berufsbildnerin sollte sich
selbst einige Fragen stellen: Wie reagiere ich auf diese Information?
Welche Vorstellungen habe ich von der Krankheit und stimmen diese mit
der Realität überein? Beeinflusst das implizit auch die Beurteilung
des/der Jugendlichen? Ich denke, es ist wichtig, dass man sich dieser
Dimensionen bewusst ist, um eine faire Selektion sicherzustellen.”
Wer sich als Ausbildner seriös mit Diabetes Typ 1 auseinandersetzt,
wird dabei schnell nicht nur mögliche Nachteile, sondern gerade auch
zusätzliche Stärken und Kompetenzen dieser Jugendlichen erkennen: Sie
verfügen über eine überdurchschnittlich grosse Selbstverantwortung, eine
grosse Selbstdisziplin und sind durch die Auseinandersetzung mit ihrer
Krankheit ihren Altersgenossen reifemässig oft viele Schritte voraus.
Es bleibt allen Jugendlichen mit Diabetes Typ 1 zu wünschen, dass ihnen diese Reife auch auf der Lehrstellensuche hilft und dass sie als das wahrgenommen werden, was sie sind: Ganz normale Jugendliche, die am Anfang des Berufslebens stehen.
Berufswahl
Vor der Lehrstellensuche steht die Berufswahl. Grundsätzlich können Jugendliche mit Diabetes Typ 1 fast alle Berufe erlernen.
Einschränkungen
Einige wenige Einschränkungen
gibt es allerdings. Hypobedingt zu gefährlich sind Berufe, die mit
Arbeiten mit Absturzgefahr verbunden sind (z.B. Dachdecker, Kaminfeger,
Bauarbeiter auf Hochbauten). Aus dem gleichen Grund kommen auch Berufe
mit Personenbeförderung, bei der man für das Wohl vieler Passagiere
verantwortlich ist, nicht in Frage. Eine Unterzuckerung könnte hier
fatale Folgen haben. Auch Berufe mit Schusswaffenumgang sind von diesem
Aspekt her nicht geeignet.
Bei diesen Berufen ist Diabetes Typ 1 ein Bonus
Andererseits bringt Diabetes Typ 1 viel Spezialwissen mit sich, das gerade in Gesundheitsberufen ein grosses Plus sein kann:
- Pflegeberufe (Flair für gesundheitliche Aspekte, Einsicht in chronische Krankheit)
- Medizinische/r Praxisassistent/-in, Pharmaassistent/-in (Umgang mit medizinischen Geräten, Spritzen, Medikamenten)
- Ernährungsberatung (Ernährungswissen, praktische Erfahrung)
- Laborberufe (Umgang mit technischem Gerät, präzise Arbeit).
(Quelle: Beitrag „Berufswahl und Diabetes“, Dr. med. Beatrice Kuhlmann, d-journal 215, 2012)
Arbeitgeber
Das sollten Ausbildner oder Ausbildnerin berücksichtigen, wenn sie im
Bewerbungsprozess vom Diabetes Typ 1 einer Kandidatin oder eines
Kandidaten erfahren:
- Widerstehen Sie einem allfälligen ersten abwehrenden Reflex, prüfen Sie die Qualifikation des Jugendlichen unabhängig vom Diabetes.
- Sprechen Sie den Bewerber offen darauf an, lassen Sie sich von ihm oder ihr informieren.
- Falls Sie sich bezüglich des Diabetes unsicher fühlen, hilft allenfalls ein Gespräch mit dem Diabetologen/der Diabetologin oder auch der Klassenlehrperson. Auch der Verein „Swiss Diabetes Kids“ (info@swissdiabeteskids.ch) ist eine Anlaufstelle.
- Führen Sie sich vor Augen, dass es in Ihrem Betrieb höchstwahrscheinlich auch andere Mitarbeitende mit einer chronischen Erkrankung gibt (z.B. Asthma, starker Heuschnupfen, Allergien, Rückenprobleme), deren Krankheit im Arbeitsalltag kein Problem darstellt, auf die man aber in bestimmten Situationen Rücksicht nehmen muss.
- Sehen Sie nicht nur potenzielle Probleme, sondern auch zusätzliche Qualifikationen, welche der oder die Jugendliche durch seine Krankheit besitzt:
- Überdurchschnittliche Selbstverantwortung
- Grosse Selbstdisziplin
- meist reifer als Gleichaltrige
Swiss Diabetes Kids hat diesen Bericht bereits bei d-journal publizieren lassen. Nachzulesen unter diesem Link.
Angebot für Jugendliche
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wie und wann du dabei den Diabetes ins Spiel bringen sollst oder musst?
“Swiss Diabetes Kids” unterstützt dich dabei gerne. Du kannst deine
Fragen jederzeit per Mail an info@swissdiabeteskids.ch schicken.